Was ist Krebs? Wenn der Körper seine Regeln vergisst
Es beginnt im Verborgenen. Eine einzige Zelle teilt sich – und macht dabei einen Fehler. Kein Alarm. Kein Symptom. Doch was wie ein banaler Moment wirkt, kann der Ursprung von etwas sein, das den ganzen Körper in den Ausnahmezustand versetzt: Krebs.
Anders als viele glauben, ist Krebs kein einzelnes Krankheitsbild. Es ist ein Sammelbegriff für mehr als 100 verschiedene Erkrankungen – mit unterschiedlichen Ursachen, Verlaufsformen und Therapien. Was sie eint: Gesunde Körperzellen geraten außer Kontrolle. Sie verlieren ihre innere Ordnung, teilen sich ungebremst, verdrängen gesundes Gewebe und schädigen lebenswichtige Funktionen.
Normalerweise folgt jede Zelle einem genauen Bauplan. Sie weiß, wann sie wachsen darf, wann sie ruht und wann sie sich selbst zerstören muss, wenn sie beschädigt ist – ein Mechanismus namens Apoptose. Bei Krebs ist dieser Plan außer Kraft gesetzt. Die Zelle rebelliert, lebt weiter, teilt sich ungehemmt. Sie wird zum Teil eines Systems, das nicht mehr mit dem Körper arbeitet – sondern gegen ihn.
Entscheidend dabei sind Gene, die den Zellzyklus regulieren. Einige wirken wie ein Gaspedal (Onkogene), andere wie eine Bremse (Tumorsuppressorgene). Wird das Gleichgewicht gestört – zum Beispiel durch Mutationen –, verliert die Zelle ihre Kontrolle. Besonders bekannt ist das Gen TP53, oft auch „Wächter des Genoms“ genannt. In mehr als der Hälfte aller Tumoren ist es defekt oder ausgeschaltet. Ohne TP53 kann die Zelle mit beschädigtem Erbgut einfach weitermachen – mit möglicherweise tödlichen Folgen.
So entsteht ein Tumor. Anfangs winzig, harmlos – kaum auffindbar. Doch schon früh beginnt ein gefährlicher Prozess: Die Zellen senden Signale aus, locken neue Blutgefäße an (Angiogenese) und manipulieren Immunzellen, um unbemerkt zu wachsen. Was wie Zufall erscheint, ist oft das Ergebnis biologischer Raffinesse.
Wenn der Tumor wandert: Wie Metastasen entstehen
Krebs wird besonders gefährlich, wenn er nicht bleibt, wo er entstanden ist. Einzelne Zellen können sich ablösen, über Blut oder Lymphe im Körper reisen und sich anderswo ansiedeln – in der Leber, der Lunge, dem Gehirn. Diese Tochtergeschwülste heißen Metastasen. Sie machen die Therapie deutlich schwieriger, weil sie das Krankheitsgeschehen im ganzen Körper verteilen. Oft sind es nicht die Primärtumoren, sondern die Metastasen, die lebensbedrohlich werden.
Wie genau Krebszellen diese „Reise“ überleben, ist bis heute Gegenstand intensiver Forschung. Sie müssen den Ursprungsort verlassen, durch Gewebe und Gefäße dringen, dem Immunsystem entkommen und an einem neuen Ort Fuß fassen – ein biologischer Hindernislauf. Und doch gelingt er zu oft.
Je nachdem, wo und wie ein Tumor entsteht, unterscheiden sich auch seine Eigenschaften. Karzinome entstehen aus Epithelzellen – also aus Haut und Schleimhäuten – und sind mit Abstand am häufigsten. Dazu gehören etwa Brust-, Lungen- oder Darmkrebs. Sarkome dagegen entwickeln sich aus Bindegewebe, Knochen oder Muskeln – sie sind deutlich seltener. Leukämien betreffen das blutbildende System, hier wachsen entartete Zellen im Knochenmark. Und Lymphome befallen das Immunsystem.
Diese Einteilung ist mehr als eine formale Klassifikation. Sie entscheidet über Diagnostik, Prognose und Therapie. Denn jeder Tumortyp reagiert unterschiedlich – auf Medikamente, Bestrahlung oder Immuntherapien. Ein Wirkstoff, der bei Lungenkrebs funktioniert, kann bei Bauchspeicheldrüsenkrebs wirkungslos sein.
Manche Tumoren verändern sich sogar im Laufe der Behandlung: Was anfangs gut auf eine Chemotherapie anspricht, entwickelt mit der Zeit Resistenzen. Übrig bleiben die robustesten Zelllinien – sie übernehmen, wachsen weiter. Die Folge: ein Rückfall, der häufig aggressiver ist als der ursprüngliche Tumor. Die Forschung spricht deshalb von einem evolutionären Prozess im Schnelldurchlauf. Jede Mutation ist ein Versuch – was „überlebt“, setzt sich durch.
Wie man Krebs behandelt – und warum das so schwer ist
Die klassische Krebstherapie ruht auf drei Säulen: Operation, Bestrahlung und Chemotherapie. Was lokal entfernt werden kann, wird chirurgisch entfernt. Was nicht erreichbar oder zu riskant ist, wird mit Strahlung zerstört. Und was sich im Körper verteilt hat, greift man mit Medikamenten an. Doch jede Methode hat ihre Schwächen.
Eine Operation kann nicht jede Tumorzelle erfassen. Eine Bestrahlung zerstört auch umliegendes Gewebe. Und eine Chemotherapie wirkt zwar systemisch – aber sie trifft auch gesunde Zellen, vor allem solche, die sich schnell teilen: Schleimhaut, Haarwurzeln, Knochenmark. Die Nebenwirkungen sind oft massiv.
Deshalb setzt die moderne Onkologie zunehmend auf gezielte, maßgeschneiderte Verfahren. Immuntherapien aktivieren das körpereigene Abwehrsystem, damit es Tumorzellen selbst erkennt und angreift. Besonders bekannt sind sogenannte Checkpoint-Inhibitoren, die Immunzellen „entsperren“ und sie in den Kampf schicken.
Auch sogenannte targeted therapies – also gezielte molekulare Wirkstoffe – gewinnen an Bedeutung. Sie greifen ganz bestimmte Strukturen der Tumorzellen an: mutierte Rezeptoren, gestörte Signalwege oder Enzyme, die in normalen Zellen nicht aktiv sind. Das schont gesunde Zellen – und wirkt oft effektiver. Doch der Haken: Sie funktionieren nur bei passenden genetischen Voraussetzungen.
Inzwischen ist klar: Kein Krebs ist wie der andere. Selbst Tumoren mit gleichem Namen können völlig unterschiedlich ticken. Deshalb setzt die moderne Onkologie auf personalisierte Strategien. Mithilfe genetischer Analysen – sogenannten Tumorprofilen – wird jeder Krebs genau untersucht: Welche Mutationen liegen vor? Welche Signalwege sind aktiv? Gibt es bekannte Angriffspunkte?
Auf dieser Basis wird die Therapie maßgeschneidert. Oft besprechen Ärzteteams den Fall gemeinsam in sogenannten Tumorboards – bestehend aus Onkolog:innen, Patholog:innen, Radiolog:innen und Bioinformatiker:innen. Die Medizin wird zur Teamleistung.
All das klingt vielversprechend – und ist es auch. Doch es zeigt auch, wie komplex Krebs ist. Selbst mit modernsten Methoden bleibt er unberechenbar. Einige Tumoren sprechen gar nicht auf Immuntherapien an. Andere entwickeln in kurzer Zeit neue Resistenzen. Und manche Therapien sind so neu, dass ihre Langzeitwirkungen noch kaum erforscht sind.
Auch wenn neue Therapien vielversprechend sind: Nicht jede Methode hilft jedem Menschen. Manche Krebsarten lassen sich heute gut kontrollieren oder sogar heilen – andere entziehen sich jeder bekannten Behandlung. Die medizinische Forschung kämpft auf vielen Ebenen gleichzeitig: bessere Früherkennung, präzisere Diagnosen, individuellere Behandlungen, geringere Nebenwirkungen.
Gleichzeitig verbessert sich auch die Begleitung der Patient:innen: Psychoonkologie, Schmerzmedizin, Ernährungstherapie und Palliativmedizin sind längst fester Bestandteil der Versorgung. Krebsmedizin ist heute interdisziplinär – und menschlich.
Trotz aller Fortschritte bleibt Krebs eine der großen Herausforderungen der Medizin. Aber jede neue Erkenntnis bringt uns weiter – jede Studie, jede genommene Gewebeprobe, jeder Therapieerfolg. Und: Immer mehr Patient:innen berichten von einem Leben mit der Krankheit – nicht nur nach ihr.