„Mein Leben war voll von fürchterlichem Unglück, das nie passiert ist.“ Warum Overthinking uns blockiert
Dieser Satz klingt zunächst wie eine bittere Lebensbilanz. Tatsächlich ist er vor allem eines: eine präzise Beschreibung dessen, was viele Menschen unbemerkt ihr Leben lang tun. Sie machen sich Sorgen über Dinge, die nie eintreten.
Der Ausspruch wird dem französischen Philosophen Michel de Montaigne zugeschrieben. Und obwohl er mehrere Jahrhunderte alt ist, wirkt er heute fast unangenehm aktuell. Denn was Montaigne beschreibt, nennen wir heute meist: Overthinking.
Es sind Gedanken, die kreisen. Szenarien, die immer weitergedacht werden. Entscheidungen, die man innerlich hundertmal trifft, aber nie wirklich lebt. Ich erwische mich manchmal selbst dabei, dass Gedanken länger bleiben, als sie eigentlich sollten. Nicht dramatisch und nicht überwältigend, sondern eher leise im Hintergrund.
Kennst du dieses Gefühl? Du sitzt mit Freunden zusammen, eigentlich ist der Abend gut, vielleicht sogar richtig gut, und trotzdem wandert dein Kopf immer wieder weg. Zur Arbeit. Zu einem offenen Thema. Zu einem Problem, das mit diesem Moment eigentlich nichts zu tun hat. Es ist kein akutes Grübeln, sondern eher ein mentales Festhalten. Genau das macht es so schwer greifbar.
Warum sich Sorgen oft so real anfühlen
Unser Gehirn ist darauf ausgelegt, Gefahren zu erkennen. Das war über Jahrtausende hinweg überlebenswichtig. Wer Risiken früh sah, hatte bessere Chancen. Das Problem ist nur: Dieses System unterscheidet kaum zwischen realer Bedrohung und gedanklicher Möglichkeit.
Ein unangenehmes Gespräch fühlt sich im Kopf schnell wie eine Katastrophe an. Ein ungeklärter Punkt wie ein drohendes Scheitern. Gedanken lösen dabei echte körperliche Reaktionen aus. Stresshormone werden ausgeschüttet, obwohl objektiv nichts passiert.
Genau hier liegt das große Missverständnis: Viele Menschen glauben, sie müssten nur lange genug über etwas nachdenken, um „vorbereitet“ zu sein. Doch Overthinking führt selten zu besseren Lösungen, sondern meist zu Stillstand. Während man im Kopf alle Möglichkeiten durchspielt, zieht das reale Leben weiter.
Montaigne erkannte das bereits früh: Wir leiden nicht an dem, was passiert, sondern an dem, was passieren könnte.
Leben in Abschnitten statt in Endlosschleifen
Ein Gedanke, der sich durch viele philosophische Texte zieht (und auch im unten empfohlenen Buch von Dale Carnegie zentral ist), ist erstaunlich einfach: Lebe das Leben in überschaubaren Abschnitten.
Versuche nicht, die nächsten fünf Jahre vorwegzunehmen oder alle möglichen Versionen der Zukunft durchzuspielen. Konzentriere dich auf diesen Tag. Dieses Gespräch. Diese eine Entscheidung. Viele Menschen stellen rückblickend fest, dass ihre größten Sorgen nie Realität wurden. Was blieb, war lediglich das Gefühl, sich selbst unnötig eingeschränkt zu haben.
„Einfach machen“ klingt in diesem Kontext oft banal, fast naiv. Und doch steckt darin ein psychologischer Kern. Handeln unterbricht Gedankenschleifen. Jede Entscheidung, selbst eine unperfekte, liefert neue Informationen. Stillstand dagegen produziert nur neue Szenarien. Wer handelt, erlebt Realität. Wer nur denkt, lebt in Möglichkeiten.
Sieh Overthinking deshalb nicht als Fehler, sondern als Signal. Es ist oft ein Zeichen von Verantwortungsgefühl und Empathie. Problematisch wird es erst, wenn Gedanken nicht mehr zur Klärung dienen, sondern zum Dauerzustand werden. Der Ausweg liegt nicht darin, weniger zu fühlen, sondern Gedanken nicht automatisch für Wahrheiten zu halten.
In a Nutshell: Präsenz statt Kopfkino
Die meisten Sorgen fühlen sich real an, sind es aber nicht. Overthinking ist kein Schutzmechanismus, sondern oft ein Hindernis. Wer lernt, Gedanken nicht endlos weiterzudenken, sondern ihnen bewusst Grenzen zu setzen, gewinnt etwas Entscheidendes zurück: Präsenz. Und damit genau das, was vielen am Ende fehlt: gelebte Zeit.
- Montaigne, Michel de: Essais
- Dale Carnegie: Sorge dich nicht – lebe!*
- Psychologische Grundlagen zu Stress- und Grübelschleifen

